„Reinfuttern, auskotzen und wieder vergessen – so funktioniert das Bulimie-Lernen“, sagt Martin Bonnet und beschreibt damit, wie ein Lernprozess nicht aussehen sollte. Trotzdem kommt das an der Hochschule vor: Pauken, Klausur schreiben, Haken dran machen. Der Professor für Werkstofftechnik und Kunststoffe an der Technischen Hochschule Köln gestaltet seine Lehrveranstaltungen deshalb ganz bewusst anders. Anstatt den Stoff der Grundlagenfächer in vier Bachelor-Studiengängen im Hörsaal vorzutragen, produziert er Lehrvideos, die die Studierenden zu Hause bearbeiten können. In der Präsenzveranstaltung stellen sie dann Fragen zum Inhalt oder sie lösen im Labor Anwendungsaufgaben. „Flipped“ oder „Inverted“ Classroom heißt das Prinzip, das sich als sehr erfolgreich erwiesen hat: Fiel zu Zeiten der Frontalvorlesung im Modul „Werkstofftechnik“ jeder zweite Studierende durch, ist es jetzt nur noch jeder zehnte.
Digitale Lehre und Escape-Room-Spiel
Für seinen Ansatz wurde Martin Bonnet dieses Jahr mit dem Landeslehrpreis Nordrhein-Westfalen in der Kategorie Fachhochschulen ausgezeichnet. Ihm ist wichtig, dass seine Lehrveranstaltungen auf die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und die individuellen Lebensumstände der Studierenden eingehen. Das geht am besten mit digitaler Lehre, die zeitlich und räumlich unabhängig ist und ein individuelles Lerntempo ermöglicht. Außerdem sollen seine Kursteilnehmenden nicht nur Daten und Fakten pauken, sondern Entscheidungskompetenz für das Berufsleben gewinnen. Gute Lehre muss für Martin Bonnet deshalb studierendenzentriert und kompetenzorientiert sein. Außerdem darf sie unterhalten: Als Ersatz für die Übungen in seinem Fach testet er zurzeit die ersten Level eines Escape-Room-Spiels. Hier müssen die Teilnehmenden Aufgaben in einem virtuellen Labor lösen, um dem Unwesen, das der „Exmatrikulator“ treibt, zu entkommen.
Angstfreie Atmosphäre
Peter Riegeler, der einen ähnlichen Ansatz verfolgt wie sein Kölner Kollege, misst die Qualität seiner Lehre daran, wie wirkungsvoll sie ist. Der Professor für Physik und Mathematik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel hat in diesem Jahr den Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre des Stifterverbandes entgegengenommen. „Wenn ich erst durch die Klausur erfahre, ob ein Kurs das Lernziel erreicht hat, ist es schon zu spät“, sagt Peter Riegeler. Auch er arbeitet mit dem Flipped Classroom, schickt die Studierenden mit einem wöchentlichen Arbeitsauftrag nach Hause und konzentriert sich in den Lehrveranstaltungen auf die Dinge, die die Studierenden nicht verstanden haben. Zu diesem Zweck müssen sie vorher am Computer Kontrollfragen zum Lernstoff beantworten, die maschinell ausgewertet werden. „So habe ich stets ein gutes Bild, wo der Kurs im Mittel steht.“ Für dieses Vorgehen sei es wichtig klarzustellen, dass es erst in der Abschlussklausur um eine Beurteilung der Leistung geht. „So schaffe ich eine angstfreie Atmosphäre, in der die Studierenden sich trauen, Fragen zu stellen.“
Kaum Zeit für neue Lehrformate
Beide Professoren verlassen mit ihren innovativen Ansätzen ausgetretene Pfade und haben dafür je 50.000 Euro Preisgeld erhalten. Aber beide kommen dabei mit der Lehrverpflichtungsordnung in Konflikt. Denn die fordert, dass Professorinnen und Professoren 18 Semesterwochenstunden an der Hochschule lehren. Martin Bonnets Vorlesungsreihe „Welt der Werkstoffe“ zum Beispiel ist auf YouTube zu sehen und hat 15.000 Abonnenten. Seine Lehrvideos wurden rund 190.000 Stunden lang gesehen. „Wie soll ich das über das Lehrdeputat abbilden?“, fragt Martin Bonnet. Er dokumentiert seine Veranstaltungen nach dem alten Konzept, obwohl er sie nicht mehr in persona abhält, dafür aber zusätzliche Arbeit mit der Produktion der digitalen Inhalte hat.
Ähnlich geht es Peter Riegeler, der viel Zeit auf die Diagnose des Lernfortschritts in seinen Kursen verwendet, dem aber nur die Stunden angerechnet werden, die er im Hörsaal steht. Der Preisträger sieht einen klaren Widerspruch in der Haltung der Politik, einerseits innovative Ansätze finanziell zu fördern, aber andererseits an veralteten Regularien festzuhalten: „Man schafft Anreize, dass der Fuß auf das Gaspedal drückt, lockert aber die Handbremse nicht.“
Martin Bonnets Vorlesungsreihe: „Welt der Werkstoffe“